“Wir haben heute etwas gegen Ungerechtigkeit unternommen”

/ Suse Bauer

Nicht selten sind Schüler*innen ihren Eltern im inklusiven Denken voraus. Sie werden aktiv für Respekt und gegen Ausgrenzung. Warum fällt es in Schulen oft so schwer, dies pädagogisch zu nutzen?

In der Grundschul-Klasse meiner Tochter Hilda* gab es einen Jungen, bei dem während des ersten Schuljahres ADHS diagnostiziert wurde und der für einige Stunden in der Woche eine Sonderpädagogin zugeteilt bekam. Hilda erzählte nach der Schule regelmäßig von Tim*, der “schnell ausrastet”. Zunehmend verlagerten sich diese Erzählungen allerdings auf ein anderes Thema: Die Schüler*innengruppe, der es scheinbar Vergnügen machte, Tim so oft wie möglich zu provozieren und und zum “Ausrasten” zu bringen.

Wie einige Eltern auf Tims Schwierigkeiten reagierten, erlebte ich beim nächsten Elternabend: Er wurde als Belastung für die gesamte Klasse wahrgenommen und mehrere Eltern forderten – im Beisein der Mutter des Jungen – Tim aus der Klasse zu entfernen. Der Bericht der Klassenlehrerin, dass einige Schüler*innen regelmäßig versuchten, Tim bewusst zu Fehlverhalten zu provozieren, wurde nicht ernst genommen. Im Gegenteil, einige Eltern erklärten mit Nachdruck, sie würden ihre Kinder immer wieder darauf hinweisen, dass sie sich von Tim nichts gefallen lassen und sich “ordentlich” zur Wehr setzen sollten. 

Im Unterricht versuchte die Lehrerin, die Provokationen zu unterbinden – während der Schulpausen allerdings gab es in regelmäßigen Abständen Eskalationen.

Über die Jahre fand sich aber auch eine Schüler*innengruppe zusammen, die ein gutes Miteinander mit Tim entwickelte. Meine Tochter gehörte dazu. Sie saß im Unterricht neben ihm. Hilda erzählte mir, dass sie Tim zwar anstrengend fände und er ihr oft zu viele Fragen stellte – aber dass sie sich Regeln ausgedacht hatte, die den gemeinsamen Schulalltag leichter machten: Ihre Tischhälfte wäre ihr Bereich, das müsse Tim akzeptieren – so wie sie im Gegenzug keine Dinge auf seine Tischhälfte legen würde, was bei Tim zuvor manchmal zu Wut geführt hatte. Und er könne ihr auch während des Unterrichts Fragen stellen - aber erst nachdem sie ihre Aufgaben beendet und den Stift hingelegt hätte.

Inklusion bedeutet eben nicht, dass alle beste Freund*innen sein müssen

Beide haben Regeln des Miteinanders gefunden, die ihnen einen guten Umgang ermöglichten und Überforderungssituationen vermieden.

Eines Tages kam Hilda aufgewühlt aus der Schule: Am Vormittag hatte sie gehört, dass zwei Schüler planten, Tim nach dem Sportunterricht zu verprügeln. Gemeinsam mit ihren Freud*innen hat sie das verhindert. Mit einiger List schafften sie es, ihm aus der Gefahrenzone zu helfen: Eines der Mädchen rannte mit Tim direkt nach dem Unterricht zu den Fahrrädern, ein Mitschüler holte Tims Sportzeug, mehrere Kinder stellten sich schützend vor die Fahrradständer. So konnte Tim die Schule ungesehen verlassen  - und die beiden Jungs mit Prügelplänen blieben ratlos zurück. Später traf sich die Gruppe vor Tims Zuhause, gab ihm sein Sportzeug und wartete, bis er im Haus war.

Hilda beendete ihre aufregende Geschichte mit dem Satz: “Ich mag Tim nicht besonders – aber was mit ihm oft passiert, ist einfach ungerecht. Und da haben wir heute etwas gegen unternommen.”

Inklusion bedeutet eben nicht, dass alle beste Freund*innen sein müssen. Aber Inklusion bedeutet, dass Jede*r dazu gehört und mit Respekt behandelt wird.

*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film 
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.

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Zum Film DIE KINDER DER UTOPIE

Ein Kind mit blauem Helm und blauem Rucksack auf einem Fahrrad fahrend. Es hat dem Betrachter den Rücken zugewandt.

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