Inklusion nach Rezept? Die Jakob-Muth-Preisträger 2019

/ Ina Döttinger

Seit 10 Jahren wird der Jakob-Muth-Preis für gelungene schulische Inklusion vergeben. Dabei wird immer wieder klar, dass das Gelingen weit über das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung hinausgeht.

Neulich hatte eines meines Kinder Spielbesuch. Ich hatte keine Zeit mehr, zum Bäcker zu gehen, und habe schnell Kekse gebacken. Mein Notfall-Rezept dafür ist von Rachel Allen und braucht vor allem Butter, Zucker und Mehl. Wie genau die Kekse dann schmecken, hängt dann allerdings davon ab, was genau in den Teig kommt. Je nachdem, was ich zuhause vorrätig habe: Welche Butter oder Margarine nehme ich, welchen Zucker und welches Mehl? Und: was tue ich sonst noch so dazu. In diesem Fall war es Zimt. 10 Tage später Schokodrops und Grapefruitschale und –saft. Und jedes Mal schmecken die Kekse ein bisschen anders.

„Eigentlich“, sagt Sabine Kreutzer, Schulleiterin der Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn, auf der Preisverleihung des Jakob Muth-Preises, „eigentlich haben wir ja hier schon Rezepte für inklusive Schule.“ Dem stimme ich zu. Dieses Jahr wurden vier Schulen und ein inklusives Schüler*innenprojekt ausgezeichnet:

  • Die Friedenauer Gemeinschaftsschule in Berlin (Jahrgang 1-10, perspektivisch 1-13)
  • Die Schule an der Burgweide in Hamburg (Jahrgang 1-6)
  • Die Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn (Jahrgang 5-13)
  • Das Kulturanum in Jena (Jahrgang 1-12, perspektivisch 13)

und das Projekt „Herausspaziert“ der Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum.

Drei „Zutaten“ haben die vier Preisträgerschulen gemein:

  • Jahrgangsmischung,
  • Konzepte individuellen Lernens,
  • Projektunterricht.

In der siebten Klasse eines Berliner Gymnasiums sitzen zum Beginn des Schuljahres Kinder zwischen 10 und 14 Jahren. Dabei kann die 10-Jährige gut und gerne im Lernstand ein bis zwei Jahre weiter sein als der 14-Jährige. Oder ein 12-Jähriger in Englisch auf dem Lernstand eines 14-Jährigen, in Mathe aber auf dem eines 10-Jährigen.

In den Preisträgerschulen ist das nicht anders. Nur: hier gehört es zum Alltag, mit den unterschiedlichen Altersstufen und Wissensständen aktiv umzugehen. In dreien der Preisträgerschulen werden jeweils drei Jahrgänge zusammen unterrichtet: 1-3 und 4-6 (Berlin, Hamburg, Jena), 7-9 und, perspektivisch, 10-13 (Jena und Berlin).

Die Marie-Kahle-Schule benutzt die „Zutat“ Jahrgangsmischung auf andere Weise: sie hat sie integriert im Dalton-Prinzip – ihrem Konzept des individuellen Lernens. Jedes Fach hat ein Drittel seiner Zeit an die Dalton-Zeit abgegeben. Hier bearbeiten die Schüler*innen fachspezifische Aufgaben in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise. Woran sie arbeiten, wie lange sie brauchen – das ist ihnen überlassen, ebenso wie die Raumwahl und mit wem sie arbeiten wollen. In Dalton mischen sich alle Jahrgänge, von 5 bis 13.

Auch die anderen drei Preisträgerschulen haben u.a. mit Lernlandkarten (Hamburg), Lernbüros und Lernzeiten (Berlin), Logbüchern (Jena), etc. Wege gefunden, wie die Kinder und Jugendlichen ihr eigenes Lernen gestalten können.

Und alle Preisträger haben erkannt: Lernen ist etwas ganz anderes, als am Unterricht teilzunehmen. Im Projekt „Herausspaziert“ ist es sogar erklärtes Ziel, nicht in der Schule zu sein. Sondern sich als Gruppe ein gemeinsames Ziel zu setzen, die Umsetzung vorzubereiten (mit einem sehr kleinen Budget) und 17 Tage lang außerhalb der Schule zu verfolgen, sozusagen ohne erwachsenen Input. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein: eine Fahrradtour, herausfinden, wie rollstuhlfreundlich die eigene Stadt ist, auf einem Bauernhof arbeiten, einen Roman schreiben. Auch bei den vier Preisträgerschulen spielen Projekte eine besondere Rolle: gemeinsam und fächerübergreifend an bestimmten Themen zu arbeiten, das bestimmt bei allen den Schulalltag wesentlich mit.

Der Rahmen – das Kneten dieser Zutaten – passiert bei allen im Ganztag. Denn Geschmack kann sich erst mit Zeit entfalten. Und neben diesen „Hauptzutaten“ gibt es viele kleine Unterschiede, die den Geschmack der Schule verändern können – Räume spielen überall eine große Rolle, Zeitstrukturen, Teamarbeit. Immer anders.

Und so schmeckt jeder Preisträger ein bisschen anders – schließlich sind ja auch bei allen die Zutaten andere: andere Schüler*innen, anderes Umfeld, andere Lehrkräfte, andere Erfahrungen. Und alle arbeiten noch an ihren Rezepten – manchmal fehlen Zutaten. Manchmal heizt der Backofen nicht richtig. Manchmal hat man einfach Lust auf etwas anderes. Aber allen ist gemein: es schmeckt nach Inklusion. Guten Appetit!

Wer mehr über Preisträger und Preisverleihung erfahren möchte, der kann hier gucken: Preisträger 2019

Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.

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Zum Film DIE KINDER DER UTOPIE

Foto: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de

Schüler in einem Klassenzimmer. Ein Schüler mit schwarzem Oberteil und schwarzen Haaren hat den Arm gehoben.

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