Eine grüne Berglandschaft, oben im Bild blauer Himmel mit einigen weißen Wolken.

Klasse für alle: von Hartnäckigkeit, Mut und Vertrauen

Von Hans-Werner Bick · · in Wie funkioniert's?

Hans-Werner Bick, Lehrer an der Montessori-Gesamtschule in Borken, blickt auf eine Ressource, die viel zu selten gesehen wird, wenn es um das gute Zusammenleben und -lernen in einer inklusiven Klasse geht: die Kompetenz der Schüler*innen. Anhand von Beispielen aus seinem Schulalltag schildert er eindrücklich, welche Wege die Klassengemeinschaft in schwierigen Situationen fand und so eine positive Verhaltensänderung bei Mitschüler*innen bewirken konnte.

Vor sechs Jahren besuchte eine angesehene Professorin, die seit vielen Jahren die Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention in Deutschland vorantreibt, meine Klasse. Eine Schülerin mit Down-Syndrom zeigte sich während dieses Besuches sehr „auffällig“. Beim Abschied riet mir die erfahrene Professorin, unbedingt eine Schulbegleitung für dieses Mädchen zu fordern: „Das schaffen Sie sonst nicht.“

Zwei Jahre später trafen wir uns anlässlich einer Veranstaltung in Münster wieder, und ich wurde gefragt, ob es damals mit einer Schulbegleitung geklappt habe. Ich verneinte und wies darauf hin, dass ich zuerst auf die inklusive Kompetenz der Klasse vertraut hätte und sich das auch als richtig herausgestellt hätte. Wie sich denn diese Kompetenz gezeigt habe, wurde ich überrascht gefragt.

Ich konnte bloß erklären, dass die Klasse einfach durch ein geändertes Verhalten dem Mädchen gegenüber bei diesem nach und nach auch eine Verhaltensänderung bewirkt habe, ohne dass die Erwachsenen steuern mussten. „Inklusive Kompetenz einer Schulklasse, daran habe ich nicht gedacht“, so die Reaktion.

„Inklusive Kompetenz einer Schulklasse, daran habe ich nicht gedacht“

Aber was ist die inklusive Kompetenz einer Schulklasse? Woher kommt sie? Wie kann man sie anregen? Sichtbar machen? Steigern?

Im Vergleich zu anderen fachlichen Kompetenzen gibt es hier keine Skala, liegen keine allgemeingültige Kriterien vor, gibt es keine entsprechenden Kompetenzraster. Hier können nur Erfahrungen mitgeteilt werden, deren Schilderung Zuversicht, Mut, Vertrauen und Möglichkeiten für die eigene Arbeit vermitteln kann.

Ich kann hier lediglich Geschichten erzählen, die aus meiner Sicht belegen, was möglich ist. Ich beginne diese kleine Serie mit Hannes* und einem gemeinsamen Gipfelsturm:

Hannes erlitt im Alter von acht Jahren drei Schlaganfälle, die ihm außer Denken und Atmen alle Möglichkeiten nahmen. Mit überwältigender Energie kämpfte er sich zurück, lernte wieder sprechen und seine oberen Extremitäten zu nutzen, wobei ihm ein oft stark einschießender Spasmus vieles erschwerte. Hannes saß im Rollstuhl, konnte mit Hilfen für kurze Zeit stehen.

Seine Sprache war nur schwer zu verstehen, wofür er sich so schämte, dass er anfangs oft einen Sprachcomputer mit vorformulierten Sätzen nutzte und in der Folge mehr und mehr verstummte. Seine Schulleistungen entsprachen den Anforderungen voll, seine soziale Einbindung war zuerst recht gut, wurde später mehr und mehr durch seine Rückzüge erschwert.

Zu Beginn der Klasse 10 beschlossen alle Schüler*innen der Klasse, die Abschlussfahrt in eine Hütte im Kleinwalsertal auf ca. 1000 m Höhe zu machen. Auch Hannes stimmte dafür, denn ihm sollte für diese Unternehmung eine spezielle Rollstuhl-Sänfte von Dr. Boos vom Uniklinikum Münster zur Verfügung gestellt werden.

In den Alpen als Bremsklotz?

Etwa drei Monate vor der Fahrt sprang Hannes ab, wollte nicht mehr mit. Immer wieder versuchten ihn die Mitschüler*innen umzustimmen. Hannes sah sich jedoch in den Alpen als Bremsklotz für die anderen, als Belastung für die Klasse und die Alpen als unnötige Erfahrung für sich selbst. Keine der wöchentlichen Runden konnte ihn umstimmen.

Deshalb wollte die ganze Klasse nicht mehr in die Alpen, was Hannes natürlich wieder unter anderen Druck setzte. Mit den Lehrer*innen sprach Hannes gar nicht mehr, da diese seinen Druck wohl eher noch erhöhten. Daraufhin wählten die Mitschüler*innen den schriftlichen Chat per Internet als Medium, um Hannes doch noch umzustimmen.

Und in diesem Medium öffnete sich Hannes plötzlich den Mitschüler*innen, kehrte sein Innerstes nach außen und ließ sie teilhaben an seinen Ängsten. Die Klasse analysierte mit ihm jede der geplanten Unternehmungen, hörte seine Einwände und Befürchtungen, suchte Lösungen, mit denen Hannes einverstanden sein konnte.

Ergebnis: Hannes fuhr mit

Hannes fuhr mit ins Kleinwalsertal. Die Klasse bewältigte alle Unternehmungen gemeinsam mit ihm, in dem die Mitschüler*innen ihn in Teams bergauf zogen und schoben und bergab hielten und bremsten.

Hannes sagte: „Ich hatte unglaubliche Angst, mich den anderen so auszuliefern, und das Geschaukel meiner Sänfte bergauf konnte ich zuerst kaum ertragen. Aber je mehr Kilometer wir zurücklegten, umso sicherer fühlte ich mich. Als mich die Mitschüler*innen bis auf das Walmendingerhorn in 1990 m Höhe zogen und ich auch wieder sicher die steilen Pfade herunter kam, da war ich nur noch glücklich, dass ich eine solche Erfahrung machen konnte.“

Hannes hat durch die Hartnäckigkeit der Mitschüler*innen, durch deren Kompetenz, durch seinen Mut und durch sein Vertrauen eine Erfahrung machen können, die anderen „Rollis“ wohl nicht möglich ist. Sein „Sosein“ hat nichts verhindert.

*Name von der Redaktion geändert.

Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film 
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.

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Foto: Nadja Golitschek (Lizenz: CC BY-SA 2.0)

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